Aus der Vergangenheit unserer Heimat

Selten genug kommt ein Fremder auf das Schloß. Man feiert hin und wieder Feste mit den anwohnenden Geschlechtern. Aber das lindert die Einsamkeit der Schloßbewohner nicht. Da sind die Frankfurter Adelshäuser von anderem Schlag. Die wohnlicheren Häuser sind mit Samt und Seide behangen. Vornehme Bilder und Silbergerät schmückt die Gesimse. Im Monat zweimal ist bei einem der Herrschaften ein Festmahl. Selten genug verläuft sich einmal einer der fahrenden Sänger auf ein Schloß in den Taunuswäldern.

 

Just in dem Monat, wo Akelei, die Grafentochter, zwölf Jahre alt werden sollte, kam Neithart von Reuenthal auf das Cleeberger Schloß. Der Schloßherr hieß ihn freundlich willkommen. Seit Neithart seinen Besitz bei Amorbach im Odenwald verloren hatte, war er ein alter Mann geworden. Die Haare schlohweiß, tiefe Falten in dem ernsten Gesicht saß er da. Kein frohes Wort wollte ihm mehr über die Lippen. Der Graf schüttelte traurig den Kopf. Er kannte Neithart von früher her. Damals sprühte seine Rede von Witz und Geist. Der Cleeberger ließ seinen besten Rotwein auftischen. Auch der gab dem Sänger die Freude nicht wieder. "Ihr solltet bis zum 26. Des Monds verweilen", ermunterte ihn die Schloßherrin, "da halten wir ein Fest zu Ehren unserer Tochter Akelei, das sollt ihr durch euer Lied verschönen." Der Alte nickte, aber es war, als ob er gar nicht zugehört habe. Dann kam der Tag des Festes. Die Frankfurter Geschlechter von Glauburg, die zu Holzhausen, die Schelme von Bergen, die Münzenberger die von Braunfels und Hohensolms gaben sich ein festliches Stelldichein. Der Graf kredenzte vom besten Wein, die Tiere des Waldes lieferten ihre Leckerbissen, Fische und Krebse brachten ein köstliches Ragout. Das beste aber sollten neben der Musik die Lieder zum Tanz abgeben, die Neithart von Reuenthal so köstlich zu singen wußte. Neben Akelei saß im einfachen Bauernkleid ein Knabe, der das Mädchen mit wohlerzogenen Manieren und artigen Redeweisen unterhielt. Den gräflichen Herrschaften war das ein wenig ein Dorn im Auge, denn es war zu damaligen Zeiten nicht üblich, mit niederem Volke an einem Tisch zu speisen. Die Schloßherrin, der die Stichelreden der Glauburgerin nicht entgangen waren, ärgerte sich darüber, und sie gedachte, sich zu gegebener Zeit zu rächen. Da sang Neithart sein Lied:

 

Zum Reihen (Übers. Ins Hochdeutsche von H. May)

 

Der Mai, der Maien ist so reich,
Ihm kommt an Wonnen keiner gleich.
Der Wald ist voller Prangen.
Er ist des Duft´s und Laubes voll,
die Vöglein singen freudentoll:
"Der Winter ist vergangen."

 

Ich freu´mich, dass die grüne Heid,
so voller Duft und Augenweid
sich neu beginnt zu schmücken.
So spricht das junge Grafenkind:
"Dass er mir drauf ein Kränzlein wind`,
will ich die Blumen Pflücken.

 

O Mutter, Mutter, schweig fein still,
da ich zum Anger gehen will.
Ich will den Reigen springen.
Herr, Neithart, der von Reuenthal,
man kennt ihn hier und überall,
wird mir sein Liedlein singen.

 

O Mutter, liebe Mutter mein,
soll denn sein Fleh´n vergebens sein?
Ich will’s ihm immer danken,
dass er von Liebe so erblüht,
wenn er in meine Augen sieht
und spricht: Ich sah kein Mägdelein
wie dich im Land der Franken."

 

Es war still geworden in der Runde. Der Graf von Cleeberg erhob sich. Der silberne Becher blinkte in seiner Hand. "Dank euch, Meister Neithart. Alle Welt wird euch diese Lieder danken. Und wenn ich euch gestern und heute manchmal sorgenvoll gesehen habe, weil euch ein Strauchdieb eure Güter fortgenommen, dann trink ich heute auf die ehrenvolle Hand, die sie euch, Meister, morgen wiederbringt."

 

Der Meister schwieg. Sein Schmerz war groß. Da erhob sich die Schloßherrin: "Ich fühl am meisten mit euch, Meister. Ihr habt nichts mehr als euer Lied und euer Roß, das euch trägt, seid manchmal auf die Wohltat des Herren angewiesen, die oft von euren Liedern nicht viel verstehen. Sie geben euch, weil es so Brauch ist. Wir aber verstehen eure Lieder, auch wenn wir im Walde wohnen. Euer Lied war schön, Neithart! Aber da ist noch ein Sänger unter uns. Er ist heute von manchen scheel angeblickt worden. Ihr sollt mir sagen, Meister, ob er in unseren Kreis gehört." Die Gräfin erhob den schönen silbernen Pokal, trank dem Sänger liebevoll zu und erhob sich. Sie ging zu der Stelle, wo neben Akelei der Bauernknabe saß und führte ihn auf die Empore des Rittersaals. Der Knabe sang:

 

Gebt mir ein Liedlein, das so fein, so hell erklingt im Morgenschein
wie meine Blumenglocken.
Nie bin ich je so zart erwacht. Da hat mich eines angelacht.
Ich bin zu Tod erschrocken.

 

Das Lied, dass mir im Herzen singt, der Ton, der mir dazwischen klingt,
die wollen mich verzehren.
Vor dieser Freude Überschwang, vor diesem süßen Glockenklang
kann ich mich nicht erwehren.

 

Nehmt diese Rose, hehre Frau, die ich gepflückt im Morgentau.
Nehmt sie zum Angedenken.
Das Glöcklein, das ich jetzo schenk´, die Akelei, zum Angedenk
kann ich nur dir verschenken...

 

Der Knabe nahm eine schöne rote Rose aus einem Kelch in der Ecke hervor, näherte sich der Schloßherrin und reichte ihr in Ehrfurcht die Rose. Dann trat er zurück, nahm einen Strauß blauer Akelei aus der Vase und schenkte sie dem Grafentöchterlein. Es war tiefe Stille im Rittersaal. Der Graf erhob sich: "Ich hab´nit gewußt, dass ich einen solchen Sänger unter meinen Leuten Hab´. Meister Neithart, ihr werdet den Knaben Morgen mitnehmen. Er wird Kleidung, Zehrgeld und Roß aus dem Schloß erhalten. Und jetzt ist es Zeit, dass das Jungvolk schlafen geht." Der Graf tat einen schweren Zug aus seinem Pokal. Die Gräfin ging mit den Kindern...

 

Am nächsten Tag ritt Neithart mit dem Knaben aus dem Dorf. Am Fenster stand Akelei mit verweinten Augen.

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